Das Internet ist ein neuzeitliches Medium und wie das eben mit neuen Dingen so ist, dauert es ein wenig um sich tiefgehend damit auseinanderzusetzten. Die meiste Forschungs- und Fachliteratur zu Internetphänomen sind technischer oder wirtschaftlicher Natur. Primär wird wissenschaftlich erforscht, wie Algorithmen funktionieren, was technisch möglich ist und wie man das Internet als neunen Absatzmarkt verwenden kann. Das soll uns aber im Folgenden nur am Rande interessieren. Schon früh haben Wissenschaftler:innen erkannt, dass sich mit den Möglichkeiten und Neuerungen des digitalen Zeitalters die Dimensionen von dem Ändern, was wir unter Kommunikation und Wissen verstehen. Datenmengen, größer als die gesamte Bibliothek von Alexandria gespeichert auf einem Bruchteil dessen, was wir vor ein paar Jahrzehnten noch für unfassbar riesig hielten. Die Mondlandung und all die technischen Details darum, wurden mit insgesamt 4 Kilobyte Rechenkapazität durchgeführt[1], das ist millionenfach weniger als die Rechenleistung eines modernen Smartphones. All diese Dinge sind gut erforscht und werden weiter erforscht, was sich jedoch wissenschaftlich gerade erst in den Kinderschuhen befinden, ist die menschliche und gesellschaftliche Seite dessen, was das Internet und all seine Implikationen mit uns macht. Erst vor ein paar Jahren erwuchs die Notwendigkeit auch unter Soziologischen und Psychologischen Maßgaben zu betrachten, welche Einflüsse das konstante Mitführen eines kompakten Supercomputer auf unsere Psyche hat, wie es sich auf Wahlen und politische Diskurse auswirkt, welche Reichweite Fake News haben und wie leicht es ist sich über Rabbit Holes im Internet zu radikalisieren, aber auch seine eigene kulturelle und identitäre Nische zu finden.
Es wäre falsch zu sagen, dass wir vollkommen ins kalte Wasser geworfen wurde, als das Internet sich etablierte. So dachten Menschen seit Jahrhunderten über Kultur und Kommunikation nach, nur eben auf einer abstrakten Ebene. In jüngerer Vergangenheit wurde es dann spezifischer, schon vor mehr als zwanzig Jahren schrieb der deutsche Kunstwissenschaftler und Soziologe Hans Dieter Huber über die kulturellen Implikationen des Internets: „Wenn sich Information und Mitteilung durch das Internet globalisieren und die jeweilige Kultur als regionale, kulturelle Identität diese Formen bewertet, thematisiert und kontrolliert, dann durchlaufen sämtliche globalisierende Mechanismen einen lokalen, kulturellen Filter.[2]“, jedoch konnte er damals nur mutmaßen. Heute können wir vermutlich festhalten, dass kulturelle und regionale Eigenheiten zwar bestehen bleiben, aber hinter der sich kollektiv etablierenden Internetkultur zurücktreten.
Die Erfahrungen, die wir mit und durch den Algorithmus machen, fühlen sich intim und individuell an, dass die Gefühle, die empfundene Absurdität, folgend aus der schnellen Abfolge an Andrücken eine kollektive Erfahrung ist, die ein ganzes Milieu, eine ganze Generation in gleichem oder ähnlichem Maße prägt, ist etwas das es zu verstehen gilt, um den Einfluss dieser kulturellen Phänomene richtig zu beurteilen. Zwar kann man von den Aufruf- und Like Zahlen einzelner Videos auf ihren Einfluss schließen, jedoch geht es bei der hier angestrebten Überlegung nicht um einzelne Videos, sondern um das größere Phänomen. Um die Signifikanz für eine neue Form der Kultur, um Identifikation und Abgrenzung, um Randthemen und die emotionale Abstumpfung, die daraus erwächst, dass sowohl das potenziell süßeste Hundevideo, der intelligenteste Philosophie Take und das Abbild der schrecklichsten Folgen des gegenwärtigen Systems, alle nur einen Scroll entfernt sind, sich gegenseitig abwechseln und jagen. Fear of Missing out, Anxiety und den Umgang mit all diesen und weiteren Nebenprodukten eines Mediums Internet, das eine Datenmenge und Zeitdokumente von zwanzig Jahren Menschheitsgeschichte und darüber hinaus beinhaltet. Das menschliche Gehirn ist es nicht gewohnt, so schnell zu arbeiten, so häufig kleine Mengen an Serotonin auszuschütten und so viele Informationen auf einmal zu verarbeiten[3]. Und das soll gar nicht moralistisch oder Anti-technologisch klingen, klar ist alles schrecklich und schlimm, aber aus kollektivem Leid erwächst ja auch immer Kunst. Tik tok ist, ob wir es gut finden oder nicht der nächste Schritt in der Evolution der menschlichen Unterhaltung und Kommunikation. Daraus gehen, ganz ohne moralische Wertung Probleme und Möglichkeiten hervor. Hier geht es um den Versuch, diese Möglichkeiten zu beschreiben kulturell einzuordnen. Eine Generation abzugrenzen, die zwar immer noch mit Fernsehen und Festnetz Telefonen aufgewachsen ist, aber sich auch im Internet mehr als zuhause fühlt, eine Generation, für welche Themen wie die Klimakrise, ökonomische Ungleichheit, Rassismus und Krieg jeden Tag digitale Realität ist. Eine Generation, die so losgelöst ist von jedem Authentizitätsbegriff, von allen herkömmlichen Kunstdefinitionen, dass wir neue Worte dafür finden müssen, was sie erschafft.
Ein so plakativer wie faszinierender Ausdruck dieser Meta-Ästhetik, Ironisierung von allem und dem Zwang die so schrecklich omnipräsente Realität mit Humor und Kunst zu kompensieren ist das „Core-Core“ oder „NicheCore“- Genre, das sich gerade seinen Weg in den Tik Tok Mainstream bahnt. Eine tatsächliche und einheitliche Definition von den genannten Begriffen verbietet sich schon aufgrund der Vielseitigkeit, jedoch werde ich Versuchen auch jenen eine möglichst nachvollziehbare Beschreibung zu liefern, die nicht allzu vertraut mit Internet Nischen Phänomen sind.
Auch sind die einzelnen Bestandteile des Titels so gewählt, dass sie möglichst fluide und unspezifisch sind. Urban Dictionary ist dabei als offenes Wörterbuch für Internet Slang ein Sinnbild für die Beliebigkeit der selbstgewählten Sprache.
Core: (Der Versuch hier eine mögliche Definition reinzukopieren ist an eben jener absoluten Beliebigkeit gescheitert, deshalb hier meine absolut subjektive Wahrnehmung der Verwendung des Anhängsels „Core“.
„(…) -core (…)“ wird an bestimmte Phänomene angehängt, um sie zu einem eigenen Sub-genre zusammenzufassen. „CottageCore“ beispielsweise meint eine Nischen Ästhetik und den in Videos verarbeiteten Lebensstil, der das ländliche und ursprüngliche, das Leben in einem kleinen Cottage (Häuschen/Hof) romantisiert und beschreibt.
Meta: „Meta means about the thing itself. It’s seeing the thing from a higher perspective instead of from within the thing, like being self-aware.[1]“
Um nun auf „Core-Core“ oder „Niche-Core“ zurückzukommen, ist es nur wichtig zu verstehen, dass die schon beinahe unmöglich zu greifende Definition noch einmal auf eine Meta-Ebene gehoben wird, indem vor „Core“ nochmal „Core“ gesetzt wird, um auszudrücken, dass die Nischenphänomene Selbst eigene Nischenphänomene sind und als solche zusammengefasst werden. Die künstlerische Verarbeitung der Sub-Genre an Kunst wird zum verhandelten Objekt der Kunst selbst, es wird eine Kunst über die Kunst geschaffen, eine Meta-Kategorie für Meta-Kunst. Und wenn sich diese Definition inhaltleer, verkopft und vollkommen unmöglich einzuordnen anfühlt, dann ist das genau das, was sie meint.
So schwer es auch ist, den Begriff an sich zu definieren, ist es deutlich leichter und Teil des dekonstruktiven und sich selbst bewussten Charakters der unter ihm zusammengefassten Kunst, den Inhalt zu beschreiben. Einige Beispiel Definitionen von Nutzer:innen aus den Untiefen des Internets, die einen Bruchteil Kunst widerspiegeln sind:
- „Kind of deconstructed art. Basically invoking emotion out of a series of (visual) clips that you develop your own meaning to. Corecore content is introspective.
- „the corecore videos on tiktok are the truest expression of art under capitalism my generation has yet created“ (Twitter @catpissommelier).
Während zuvor beinahe jede Internet Nischen Ästhetik genommen, sinnentleert und kapitalisiert werden konnte, damit zu einer künstlerisch und philosophisch nichtigen Ware gemacht wurde, ist der vermutliche Sinn der „Core-Core“- Videos auf die Absurdität und Sinnentleertheit der von uns konsumierten Videos aufmerksam zu machen. Es ist eine Art Meta Verarbeitung des Gefühls, das in Reaktion auf das „Doomscrolling[1]“ entsteht. Zwar haben „Core-Core“ Videos meistens ein Überthema, eine Nachricht, eine Kritik, die alles andere als ohne Sinn ist, dennoch ist hier schwer vorstellbar, dass die beliebten Unternehmens Tik Tok Accounts, wie Ryan Air oder AIDA anfangen diesen Trend aufzugreifen und zu kapitalisieren. Den Inbegriff des Zynismus, erwachsen aus der Entfremdung des technologischen Post-kapitalistischen Zeitalters, subironisch zu kapitalisieren und in Werbung zu verwandeln, ist selbst für unterbezahlte quirky Konzern Praktikanten vermutlich eine Meta-Ebene zu viel.
Der Aufbau der Videos erinnert an Montagen, genauer solche, die vor ein paar Jahren auf Youtube groß wurden, Zusammenschnitte von Serien und Filmen, zu einzelnen Charakteren, aber auch zu Über-Themen und der popkulturellen Verarbeitung dieser. Es sind kinematografische Collage, wenn man so will.
Manche beschreiben den Trend als dokumentarische Zeit Kunst, andere als den Versuch die Leere und das Gefühl der Entfremdung auszudrücken.
Der Ton ist, unabhängig vom verarbeiteten Thema, sei es Liebe, Freundschaft, Depression, Männlichkeit oder Identität, ein sehr düsterer, existentialistischer. Die kollektiv empfundenen Gefühle werden dekonstruiert und neu sortiert, die inhärente menschliche Sinnsuche in so sinnlos wirkenden Zeiten wird künstlerisch aufgegriffen.
Häufig werden bekannte TikTok Formate und Videos mit emotionalen Filmszenen gegen geschnitten, um einen bewussten Kontrast zu schaffen. Das ironische daran ist, dass die fiktiven Filmszenen häufig den authentischen Teil ausmachen. Das geschriebene wirkt ehrlicher, emotionaler, als die Maskerade der bekannten TikToker und Formate.
All diese Phänomene waren vermutlich schon immer da, schon immer gab es Menschen, die sich zu sehr im Subtext von Kultur verloren haben, die versuchten ein Größeres ganzes auszumachen und Sinn und Bedeutung im scheinbar bedeutungslosen suchten.
Nur fällt es der breiteren Masse vermutlich aus dem gleichen Grund erst jetzt auf, aus dem die meisten Internetphänomene wie vom Himmel gefallen wirken. Es sind Bubble Phänomene. Kleine Subgenres, die in Teilen des Internets existieren, sich weiterentwickeln und wachsen. Die wenigsten Internet Trends entstehen aus Luftleeren Raum. Und ein Trend, der sich auf ein Konglomerat an aktuellen Trends besteht, ist davon keine Ausnahme.
Die Zahlen und Statistiken im Bezug auf das Internet sind unglaublich. Es nutzen circa 4,7 Milliarden Menschen weltweit Soziale Medien. Wenn man das Internet und im speziellen Social-Media als riesiges Kommunikations- und Austauschmedium betrachtet, kann jeder Post, jedes Video und jede Nachricht, potentiell mehr Menschen erreichen als jemals in der menschlichen Geschichte zuvor. Betrachtet man die erfolgreichsten TikToks und vergleicht sie mit der Rezeption von klassischer Hochkultur, dann hätte Mozart nur davon träumen können diese schiere Masse an Menschen zu Lebzeiten zu erreichen. So müsste die Wiener Staatsoper, eine der größten Opern der Welt, mehr als zehntausendmal voll belegt sein, um die gleiche Menge an Menschen zu erreichen, wie das zehnt erfolgreichste TikTok der Welt. Natürlich geht es hier mehr um Verfügbarkeit, Dauerhafte Abrufbarkeit und Globalisierung, als um Qualität, aber wir können festhalten, dass, verstehen wir TikTok Videos als irgendeine Form von Kunst, die
Resonanz Menge um ein tausendfaches größer ist, als alle jemals zuvor dagewesene Kunst. Mit der Resonanz Menge steigt auch die Reaktion auf die Kunst selbst. Wenn Kunst einmal rezipiert wurde, nehmen wir sie in uns auf, machen sie zu einem Teil von uns und erlauben ihr unser Denken zu beeinflussen. Wenn diese Entwicklung bei mehreren Millionen Menschen überall auf der Welt passiert, dann entsteht in der produktiven Verarbeitung der Einflüsse schnell unzählige neue Internet Trends. Wenn dann aus diesen Trends wieder neue Trends entstehen, alle mit einer eigenen Rezeption und Meta Ebene, dann wird es zwar kompliziert, aber auch unfassbar faszinierend. Es entsteht eine schier ungreifbare Menge an Zeitdokumenten und Daten, die alle zu einem heterogenen Bild davon beitragen, was Zeitgeist, Kultur, Kommunikation und Kunst im 21. Jahrhundert heißt.
Um diese Kultur, in der „Corecore“ nur der jüngste Trend ist, zu verstehen, müssen wir betrachten in welcher Welt wir leben. Denn schließlich ist Kunst, wie auch immer sie geartet ist, auch eine Reaktion auf die Welt um uns herum. Und orientiert man sich an der hier besprochenen Internet Kunst, so wirkt die Welt absurder, willkürlicher, kälter und orientierungsloser als jemals zuvor. Wenn wir Kunst als Reaktion auf die Welt verstehen, dann sollte uns diese Reaktion in erster Linie nachdenklich machen, über die Welt, die wir geschaffen haben.
Manche der Zusammenschnitte haben einen klar Anti-Industriellen, Anti-Kapitalistischen Geist, der beinahe aus dem melancholischen, traurigen Nebel heraustritt und eine Art Schuldigen für das Gefühl der Entfremdung auszumachen versucht.
Natürlich ist es unmöglich ein Urteil über eine ganze Generation auf Basis der “Vibes” von ein paar Videos festzuhalten, was aber durchaus möglich ist, ist der Versuch die Frage nach einem neuen Kunstbegriff in all seiner Umfänglichkeit zu beantworten und dabei müssen wir feststellen, dass vermutlich noch nie eine Kunst Form, die so Dada-esk wirkt, so eine tiefe Trauer und Verzweiflung aufgreift und in ein größeres Ganzes einzuordnen versucht. Kunst als scheinbar genauso beliebig wie der Algorithmus selbst, aber dann eben doch menschlich gefüllt mit Sinn und Beobachtung.
Durch die inhärente Schnelllebigkeit der Trends, ist es unglaublich schwer abschließende Kategorien und Muster festzuhalten und einzelne Videos zu kategorisieren, da die Edits immer weiterwachsen, andere Dinge beinahe ironisch aufgreifen und dialektisch weiterentwickeln.
Doch wenn wir uns das nächste Mal in der Absurdität des modernen Lebens verlieren und alles hoffnungslos wirkt, können wir uns damit trösten, dass das, was wir empfinden, so einsam es auch wirken mag, eine kollektive Erfahrung ist. Und wo es kollektive Erfahrungen gibt, wird es auch immer Sinn und Gemeinschaft geben.
[1] Urban Dictionary: Doomscrolling. Unter:https://www.urbandictionary.com/define.php?term=doomscrolling
[1]Kendall, Graham. Would your mobile phone be powerful enough to get you to the moon?. The Conversation. https://theconversation.com/would-your-mobile-phone-be-powerful-enough-to-get-you-to-the-moon-115933 (03.01.22).
[2] Huber, Hans Dieter: Welcome to Securityland: Die Globalisierung von Kommunikation und Kultur im Internet. In: Kritische Berichte, 25 (1997). Nr 1. S. 72.
[3] Vgl. frontiers in Psychology: Effects of Social Media Use on Psychological Well-Being: A Mediated Model. 2021.