von Paul Gallenkemper
Das Ende des Kapitalismus ist für uns unvorstellbar geworden. Das ist die zentrale These des 2017 verstorbenen Philosophen Mark Fisher. Seine pessimistische Analyse hat gerade in Zeiten der Klima- und Coronakrise neue Relevanz bekommen – aber ist die Lage wirklich so ausweglos?
Zusammengefasst hat Mark Fisher seine Analyse in dem kurzen, aber ausdrucksstarken Buch „Capitalist Realism – is there no alternative?“. Darin beschreibt er unsere westliche, post-industrielle Gesellschaft anhand ihrer absurd komplizierten bürokratischen Strukturen, der undurchsichtigen Hierarchien am Arbeitsplatz und dem Anstieg der mentalen Krankheiten nach der neoliberalen Umgestaltung des Bildungssystem. Damit fängt der Blogger und Dozent nicht nur die Lebensrealität vieler Schüler:innen und Arbeiter:innen ein, sondern bringt ein ganz bestimmtes Gefühl der Ohnmacht vor der Herrschaft des Kapitals auf den Punkt.
„Capitalist Realism“ basiert für Mark Fisher auf der Denkweise, dass wir uns gesamtgesellschaftlich eher das Ende der Welt als das Ende der kapitalistischen Wirtschaftsweise vorstellen können. Diesen Gedanken greift er von dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek auf, dessen eigenwilliges Lebenswerk für Fisher ein zentraler Bezugspunkt ist. Diese Alternativlosigkeit kommt für Fisher daher, dass sich nach dem Zerfall des sozialistischen Blocks, nach dem Zerfall einer real existierenden Alternative zum Kapitalismus, das Kapital den Systemkampf gewonnen hat. Die Ideologie der Profitlogik hat sich soweit durchgesetzt, dass überhaupt nicht mehr außerhalb von ihr gedacht werden kann: Das „Ende der Geschichte“ – wie es der US-amerikanische Philosoph Francis Fukuyama bezeichnete – sei erreicht.
Daraus folgt auch, dass die Profitlogik ihre Vorherrschaft nicht mehr legitimieren und verteidigen muss. Der offene Konflikt mit Kritik oder Alternativen bleibt aus. Stattdessen verleibt sich der Kapitalismus die Kritik an ihm problemlos ein und macht sie unwirksam.
Man kann sogar sagen: Die Authentizität von Kapitalismuskritik wird gerade zu ihrem Verkaufsmerkmal. Jegliche, nicht mal unbedingt ausgesprochene, sondern bloß wahrgenommene Unzufriedenheit mit dem System oder seinen Symptomen findet sich als Konsumgegenstand auf dem Markt in irgendeiner Form wieder. Die ungerichtete Wut der Konsument:innen wird ihnen zum Beispiel in Form von Rockmusik verkauft. Auch kapitalismus-kritische Filme wie „Parasite“ sorgen zwar für Empörung, aber werden im Endeffekt nur konsumiert. Genau daher können solche Filme auch, gerade weil sie klar antikapitalistische Aussagen treffen, mehrere Oscars und viele weitere Auszeichnungen abräumen.
Das gleiche wird bei dem „Tax the Rich“-Kleid, welches Alexandria Ocasio-Cortez auf der diesjährigen MET-Gala getragen hat deutlich. Das Kleid selbst lässt die Forderung zur reinen Ästhetik verkommen, die Aussage wird zum inhaltslosen Schocker, zum Gimmick, der allerhöchstens Ocasio-Cortez‘ Erscheinung über die der anderen Galabesucher:innen hebt. Doch vor allem der durch das Kleid ausgelöste Diskurs, die Veranstaltung sei elitär, die Besucher seien die kritisierten Reichen, ist genauso losgelöst von jeglicher tatsächlichen Bewegung oder politischen Praxis. Realistisch entfernen sich Ocasio-Cortez und ihre Demokratische Partei immer weiter davon, tatsächlich „die Reichen zu besteuern“. Fisher würde sich im Grabe umdrehen.
Es lässt sich also festhalten: Kritik führt nicht mehr zu einer konsequenten Praxis, sondern sie wird lediglich konsumiert. Das ist der integrative und lähmende Charakter der heutigen Kapitalismuskritik. Alles, was mal einen echten Inhalt, eine Praxis, ein Ziel hatte, verkommt zur reinen Ästhetik, zur Performance – so vor allem die Kritik am „System“, am Kapitalismus selbst. Man könnte auch sagen: Die Kritik verkommt zu einer Kritik um der Kritik willen, zu einer moralischen Selbsterhöhung ohne reales Ziel. Die Konsument:innen können sie sich als leere Hülle überstülpen und damit zeigen „Ich kritisiere den Kapitalismus“, oder besser „ich BIN Antikapitalist“. Sie ziehen sich ein Che Guevara T-Shirt an und dann war es das.
In „Capitalist Realism“ fängt Fisher ein ganz bestimmtes Gefühl der Hoffnungslosigkeit unter Kritiker:innen des Kapitalismus ein. Das Buch hat er kurz nach der Finanzkrise 2008 geschrieben, einer Krise, die Ausdruck der gesamten Entwicklung des Neoliberalismus war und zu der Zeit keine Hoffnung auf Verbesserungen zuließ. Um den Begriff „Capitalist Realism“ auf den Punkt zu bringen nutzt Fisher ein Bild, das in dem Film „Children of Men“ gezeichnet wird:
„Die Katastrophe […] erwartet uns nicht in der Zukunft, noch liegt sie bereits hinter uns. Stattdessen durchlebt man sie einfach. Es gibt keinen exakten Augenblick des Desasters, die Welt endet nicht mit einem Knall, sondern döst vor sich hin, franst aus, und fällt Stück für Stück auseinander. […] Ihre Ursachen liegen weit in der Vergangenheit, sie sind so vollkommen von der Gegenwart entkoppelt, dass sie wie die Launen eines bösartigen Wesens wirken: ein negatives Wunder, ein Fluch, den keine Buße lindern kann. […] Es ist sinnlos geworden zu handeln, nur unsinnige Hoffnung ergibt noch Sinn.“
Fisher selbst muss diese Hoffnungslosigkeit wohl sehr stark gespürt haben, er hat sich 2017 selbst umgebracht. Nach seinem Tod gewann das Werk an Popularität, gerade weil sein Selbstmord auch ein Ausdruck seiner Analysen ist.
Ihm gelingt es jedoch nicht, dieses depressive Gefühl AUFzulösen, eine Alternative oder einen Handlungsansatz zu bieten. Die strategischen Überlegungen, die er gegen Ende des Werks noch anstellt, kommen zu kurz und fallen zu flach aus. Doch genau daher ist es gerade für Antikapitalist:innen eine Aufgabe, sich mit diesem Werk auseinanderzusetzen. Es zeigt, was uns bei dem Aufbau einer klassenbewussten und starken Bewegung noch im Wege steht.
Die kulturellen Phänomene müssen erneut beleuchtet werden, in dem Licht der nächsten Krise. Die Pandemie und die damit einhergehende Wirtschaftskrise sowie die Klimakrise haben neue Risse in das kapitalistische System geschlagen. Gemeinsam auszuarbeiten, wie man auf diese Risse reagieren kann, um und eben doch reale Verbesserungen zu erreichen und außerhalb der Profilogik zu denken, das steht an der Tagesordnung!
Information
[englisch]
Capitalist Realism – is there no alternative? von Mark Fisher
Zero Books 2009, 81 S.
[deutsch]
Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? von Mark Fisher
VSA-Verlag 2013, 120 S.