von Julia Bachmann @jlsbl

Das erste Mal alleine zu reisen – es war eine Mischung aus Freiheit und Abhängigkeit. Ich war abhängig von Unbekannten, von pünktlichen Bussen, funktionierenden Internetverbindungen. Es war niemand da, der mir im Notfall helfen könnte. Würde nur etwas davon nicht wie geplant klappen, wäre ich wohl aufgeschmissen. Aber zugleich fühlte es sich gut an, mit niemandem einen Plan absprechen zu müssen, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, eine längere Pause zu machen oder nicht alle Sehenswürdigkeiten abzuklappern, über die man zuvor gesprochen hatte. Der Himmel über Paris war zugezogen. Es waren 15 Grad, es war Sommer, und doch fröstelte ich ein wenig. Waren es die Temperaturen oder war es die Nervosität? Die dünne schwarze Jacke, die ich mir übergezogen hatte, strich in dem sanft wehenden Wind um meine Beine. Sie war länger als meine Jeansshorts, doch ich würde sie nicht mehr lange brauchen. Es waren dreißig Grad angesagt, strahlender Sonnenschein, perfektes Sommerwetter. Es war gerade einmal acht Uhr; die Straßen waren noch leer, mitten in der Innenstadt, mitten in der Hauptstadt. Die Straßen waren leer, doch in mir tobten Gedanken und Gefühle: Da ist zum einen diese Aufregung, diese Vorfreude, Neues zu entdecken. An fremden Orten startet man bei Null, kann entscheiden, wer man hier sein möchte. Doch zum anderen war da diese Angst davor, auf mich gestellt zu sein, niemanden zu haben, der im Notfall schnell bei mir wäre. Es war ein Wechselbad der Gefühle alleine in einer Stadt unterwegs zu sein, in der die Menschen eine Sprache sprechen, die man selbst nicht richtig kann; in einer Stadt, in der man niemanden kennt.
Es war gerade einmal kurz nach acht Uhr, als ich mein erstes Ziel erreichte. Eine Familie stand davor, machte Fotos. Auf dem Gras saß eine Gruppe Jugendlicher, die sich lachend unterhielten. Die Anspannung fiel von mir ab, ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich meinen Blick zur Spitze des Eiffelturms schweifen ließ. Bienvenue à Paris.
Regenwolken bedeckten den Himmel. Es waren gerade einmal 13 Grad. In meinen dicken Strickpullover gekuschelt öffnete ich meine Balkontür. Ein sanfter Wind fuhr durch die Löcher des Pullovers, ließ mich frösteln. Unaufhaltsam fielen Regentropfen vom Himmel, ich hörte, wie sie dumpf auf dem Geländer auftrafen. Es war eine Mischung aus Freiheit und Abhängigkeit. Ich war frei, da niemand Erwartungen an mich hatte. Ein trauriges Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.
Ich legte den Kopf in den Nacken, streckte mein Gesicht der Sonne entgegen, so wie sich die Blumen zur Sonne neigten. Auch ich blühte auf bei diesem Wetter. Meine Mundwinkel zogen sich auseinander, aus meinem Lächeln wurde ein Lachen, ich konnte es nicht verstecken. An meinen Handflächen fühlte ich die kühlen Pflastersteine und spitze kleine Kieseln, die ich vorsichtig zur Seite schob, um mich aufstützen zu können. Ich spürte, wie die Sonnenstrahlen auf meinen Wangen tanzten, über meine Arme und meinen nackten Bauch bis zu meinen Oberschenkeln und den baumelnden Beinen.
Das Wasser der Seine schwappte gegen die Steine, auf denen ich saß, als sich ein Boot näherte. Musik wurde lauter. Immer deutlicher hörte ich die Klänge der typisch französischen Chansons. Ich öffnete die Augen, blinzelte, bis ich wieder klar sah. Tourist:innen winkten mir strahlend vom Wasser aus zu. Ohne nachzudenken, winkte ich übereifrig zurück. Niemanden davon kannte ich, niemand davon kannte mich.
Ich streckte die Hand über das Geländer, spürte die Tropfen auf der Haut, sah, wie sie meine Finger hinabrannen. Ich schloss die Augen, lauschte dem sanften Frühsommerregen. Was würde ich dafür geben, nach draußen gehen zu können, mich drehen zu können, vielleicht durchnässt bis auf die Knochen, aber lachend, unbeschwert, glücklich. Aber es ging nicht. Behördliche Anordnung – ich durfte nicht vor die Haustür. Ich hörte, wie eine Balkontür geöffnet wurde. Gedämpft drangen die neuesten Hits der aktuellen Charts nach draußen. Ich öffnete meine Augen, ließ meine Hand sinken, lächelte zaghaft meinen Nachbarn zu und grüßte mit einem kurzen Kopfnicken. Ich kannte sie nur vom Sehen, sie kannten mich nur vom Sehen. Die Anonymität ist ein Vorteil der Städte, aber zugleich einer ihrer größten Nachteile. Auf der einen Seite bedeutete sie Unbeschwertheit – niemanden interessierte großartig, was du machst. Auf der anderen Seite bedeutet sie Einsamkeit.
Letztendlich ließ ich mich auf den Treppen vor der Basilika Sacré-Coeur nieder, zog mein Notizbuch aus dem Rucksack, versuchte, dieses positive Gedankenchaos aus meinem Kopf auf Papier zu bringen. Ich wollte die Momente festhalten, sie einfrieren, einfangen. Ich wollte, dass sie für immer bleiben – doch nichts war für immer. Diese Momente konnte ich in einem Foto einfangen, ich konnte versuchen, Worte zu finden, um sie zu beschreiben, aber ich würde nie wieder genauso empfinden.
Vor mir lag die Stadt, der Himmel über ihr und mir war blau mit weißen Tupfen. Links und rechts von mir glänzten Liebesschlösser im Sonnenlicht. Ich entdeckte kaum noch Lücken an den Zäunen, doch es kamen immer mehr hinzu. Die Menschen wollten diese Momente festhalten, sie einfrieren, einfangen. Sie wollten, dass sie für immer blieben. Eine Mutter und ihr kleiner Sohn liefen neben mir die Stufen hinab. Ich blickte von meinen Worten auf, beobachtete, wie der kleine Junge ganz angetan von einer Taube war, die neben ihm die Treppe nach unten hüpfte. Er war ganz offensichtlich darauf bedacht, auf seine kleine Freundin zu warten, lief erst weiter, wenn sie wieder auf derselben Höhe waren. Hand in Hand mit seiner Mama, die geduldig lächelnd wartete.
Das Klacken meiner Schreibmaschine beruhigte mich, vermischte sich mit dem stetigen Tropfen des Regens. Ich hatte mich an meinem Schreibtisch niedergelassen, versuchte, das Gedankenchaos aus meinem Kopf auf Papier zu bringen. Mein Blick wanderte nach draußen, über die Streben des Geländers, die so leer waren, so viel Platz für Liebesbeweise boten, hin zu dem Taubenpärchen, das dicht an dicht auf einen Ast gekuschelt dem Regen trotzte.
Inzwischen war es Nacht geworden. Ich hatte den letzten Tag meines Spontantrips hinter mich gebracht. Meine Füße schmerzten, ich war in diesen drei Tagen zu viel gelaufen. Ich hatte so viel gesehen, so viel erlebt, so viel gelernt – über die Stadt, über mich selbst. Ich war mutiger, als ich dachte. Das war die wichtigste Erkenntnis. Und ich war spontaner, hatte mehr Vertrauen in mich gewonnen. Es musste nicht alles strikt nach Plan verlaufen; ich würde auch so eine Lösung finden.
Es war dunkel geworden, die Stadt der Lichter strahlte. Ich lehnte neben einem jungen Mann an der Mauer einer Brücke, den Blick auf die Sehenswürdigkeiten gerichtet, die in dieser milden Sommernacht funkelten und leuchteten. Wir redeten und lachten, kannten uns nicht, sprachen einen wirren Mix aus Deutsch, Englisch und Französisch und hätten uns doch kaum besser unterhalten können. Es lag Unbeschwertheit in der Luft, pures Glück, Lebensfreude. Ich hatte mich getraut, meine Komfortzone zu verlassen, alleine in ein anderes Land zu fahren, Vertrauen in fremde Menschen gesteckt und noch viel mehr in mich selbst. Ich hatte einen vorerst letzten Urlaub, einen vorerst letzten Sommer genossen. Die ersten Länder wurden schon wieder zu Risikogebieten erklärt – wer wusste schon, für wie lange. Ich wusste, dass die Zahlen stiegen, in der Innenstadt hatte ich heute bereits Maske tragen müssen. Doch war ich dankbar, dass ich noch einmal Kraft tanken durfte, dass ich noch ein paar Momente einfangen durfte, an die ich in ein paar Wochen, Monaten zurückdenken konnte. Dann, wenn ich ein Lächeln nötig haben würde. Der Busfahrer lud meinen Koffer ein, ich lehnte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe, verabschiedete mich mit einem zaghaften Winken von Paris.
Es war erst Tag drei meiner Quarantäne, elf weitere Tage standen mir noch bevor. Es war Nacht geworden. Meine Lichterkette erhellte meine Wohnung, während ich an die Wand gelehnt auf meinem Bett saß. Mit strahlenden Augen und einem breiten Lächeln erzählte ich meinem besten Freund am Telefon zum zweiten, vielleicht auch dritten Mal von meinen Erlebnissen in Paris letztes Jahr. Ich konnte es kaum glauben, dass meine kleine Reise schon neun Monate zurücklag. Mein Blick blieb an einem Foto hängen, das auf meinem Schreibtisch stand. Es zeigte mich, früh um acht, vor dem Eiffelturm, müde, aber glücklich, in meiner schwarzen Strickjacke, die länger als meine Jeansshorts war.