
von Victoria Nieswiec @victoria.nieswiec
„Fürchte nicht den Donner, wenn es der Blitz ist, der dich trifft.“
Das waren die Worte, mit denen sie versuchte zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen war.
Sein Grollen.
Das Beben einer Naturgewalt, gefangen zwischen Aftershave und blasser Haut.
In einem geschlossenen System ist elektrische Ladung unveränderlich.
Kein Entkommen, abstoßende Kräfte gefangen in einem nie endenden Tanz mit ihrem Gegenstück.
Unsere Mutter voll positiver Ladung.
Bis seine Negativität sie anzog.
Wechselwirkung.
Elektrostatische Aufladung.
Wolkenbildung.
Regen.
Wir drohten zu ertrinken.
Im flüssigen Zustand herrscht eine Mischung von Ordnung und Chaos.
Jeder Raum, den er betrat, schien sich unweigerlich mit Wasser zu füllen.
Erst Pfützen.
„Essen zu kalt, Essen zu warm.“
Schnell Laachen.
Laachen, die dazu führten, dass sich unsere Schuhe füllten.
Nicht zu leeren, trugen wie sein blaues Gold mit uns.
Als hinterließen wir Spuren.
Jeder Schritt beobachtet.
Dann die Wolkenbildung.
Das Unwetter schlich in unser Fachwerk.
Dielen schwerer Dunst getragen von Wänden durchweichter Tapete.
Die Fenster stets verriegelt. Die Sicht nach außen verschwommen.
Aber so auch nach innen.
Unweigerlich folgte Krankheit.
Erkältung.
Abwesenheit wegen Erkältung.
Unsere Mutter fror ein.
Zur Rettung blieben uns also Eisschollen statt schützender Hände.
Sie, keine Reinform von Eis.
Jedes ungesagte Wort, eingeschlossene feine Luftbläschen.
Ihr Licht vielfach gebrochen.
Eine Erscheinung in Weiß.
Seit jeher sei sie blasser geworden,
müde Augen schauen nicht richtig hin.
Ihre Kälte lud Polarstürme an unseren Tisch.
Kräftige Aufwinde rissen uns auseinander.
Unter seinem Donnern zerbrach schließlich ihr Eis.
Sein Blitz hatte eingeschlagen.
Für das System Entladung.
Die Wirklichkeit: Zerstörung.
Die Gleichung teilte uns von ihr. Hinterließ nur uns zwei und einen Sturm, der bereit war, weiterzuziehen.
Ein Blitz kann eine elektrische Spannung von Millionen Volt haben.
Von ihr würde nichts bleiben als ein Zeitungsbericht und duzende davon nichts geahnthabende Augen, die den Tropfen des tauenden Eises an unseren Fenstern folgen.
Wenn ich mich zurück erinner, dann weiß ich heute eines mit Sicherheit. Sie vergaß etwas, wenn sie wieder unter verlegenem Lächeln das alte Mantra verlas.
„Fürchte nicht den Donner, wenn der Blitz es ist, der dich trifft.“
Sie vergaß, dass der Blitz schon lange zuschlug, bevor wir seine Grollen vernehmen können.
Sie vergaß, dass es nach dem ersten Lichtblitz am Himmel selten aufklärt.
Sie vergaß, das Unwetter.
An diesem Morgen ließ uns ein Fadenspiel aus Tropfen wie die Marionetten der Wolken aussehen.
Doch als wir vor dem Singen der ersten Vögel das Haus verließen wusste ich, dass wir keine waren.
Nicht mehr.
Nie mehr.
Die Wolkendecke, ein Farbenspiel in Moll, riss auf und wurde von ihrem Komplementär geteilt.
Ich griff die kleine Hand und zählte.
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Dann das nahezu erlösende Krachen.
Ich lächelte.
Wir rannten.
Getrieben von der Zeit, doch getragen von Hoffnung.