das politische am unpolitischen

Das Politische am unpolitisch sein

Ich schlage die Augen auf: Der Wecker meines Handys spielt unaufhörlich diese unangenehme voreingestellte Melodie. Ich seufze, schalte den Wecker aus und entsperre mein Handy. Während ich zuerst Twitter und dann die Nachrichten-Apps meines Vertrauens öffne, reibe ich mir den letzten Schlaf aus den Augen. Was erwartet mich wohl heute? Was ist in den letzten acht Stunden alles schief gegangen?

Ist ganz Deutschland  wieder überrascht, dass eine weitere Handvoll rechtsextremer „Einzelfälle“ in Bundeswehr, Polizei oder Verfassungsschutz aufgetaucht sind? Oder ist der Klimawandel und mit ihm die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte einfach nur noch einen Tag näher gerückt?

Schon vor dem ersten Kaffee liege ich also da, dieses 4,7-Zoll-Fenster zum gesammelten Schmerz und Leid der ganzen Welt in meiner Hand. Selten gibt es etwas, über das man sich freuen kann. Noch bevor ich aufstehe, ins Wohnzimmer gehe und das erste Wort des Tages mit einem lebendigen Menschen wechsle, entweichen mir in der Regel vier bis neun frustrierte Seufzer.

Doch ich wüsste nicht, was die Alternative ist: Ich kann mir Politik aus meinem Leben nicht wegdenken. Seit ich denken kann, diskutiere ich mit meinen Eltern, Freund*innen und Lehrer*innen über große politische Themen oder tagesaktuelle Nachrichten. Es ist mir wichtig, immer informiert zu sein.

Das Problem der unpolitischen Jugend

Genau deshalb fiel es mir schwer, einen Bezug zum Thema unpolitisch sein zu finden. Um einen Einblick in die Argumentation und die Sichtweisen auf ein Leben ohne Politik zu bekommen, erstellte ich kurzerhand eine Umfrage in meiner Instagram-Story. Alle Ergebnisse gibt es hier ausführlich zum nachlesen: Umfrage[1]

Meine Umfrage bestätigt im Kleinen, was die renommierte Shell Jugendstudie[2] [HG1] in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext herausfand. Diese untersuchte unter anderem die Frage: „Wie stehen junge Menschen zu Politik, Gesellschaft und Religion?“[3].

2019 fand die Studie heraus, dass sich 8 % der Jugendlichen stark für Politik und Gesellschaft interessieren. Weitere 33 % beschreiben sich selbst als interessiert. Zusammengefasst heißt das: Weniger als die Hälfte der Jugend in Deutschland interessiert sich aktiv für Politik. Der Teil, der sich engagiert, ist also noch einmal deutlich kleiner.

Privilegien verstehen und solidarisch sein

Politisch wie auch unpolitisch sein ist mit Privilegien verbunden. Diese haben nicht alle Menschen in Deutschland oder gar auf der Welt.

Zwar sind alle Menschen in Deutschland offiziell vor dem Gesetz gleich. Dass das jedoch mit Racial Profiling[4], systematischem Rassismus in Behörden und rechtsextremen „Einzelfällen[5]“ in verschiedenen Institutionen in der Realität nicht so ist, sollte man spätestens seit den Black Lives Matter Protesten niemandem mehr erklären müssen. 

Daraus leitet sich Folgendes ab: Privilegierte Menschen, sprich primär weiße Cis-Männer, bei welchen also Geburtsgeschlecht und Geschlechtsidentität übereinstimmen, sind nicht von struktureller Diskriminierung und Rassismus betroffen. Daher gibt es keinen existenziellen Grund auf die Probleme in einem System aufmerksam zu machen, das für einen selbst hervorragend funktioniert.

Ein Zitat aus dem neu erschienenen Netflix Film „Elona Holmes“, der in einer von Männern dominierten Welt spielt, bringt das Ganze auf den Punkt:

„You don´t know what it is to be without power. Politics doesn´t interest you. Why?

Because you have no interest in changing a world that already suits you”[6]

Auch die Realität in Deutschland bestätigt das. Mehr als 40 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund gaben in der Shell Studie an, im Alltag häufiger als andere benachteiligt zu werden.

Auf der anderen Seite ist es jedoch auch ein Privileg, die Zeit und die Kapazitäten zu besitzen, sich mit politischer Theorie, Parteien und Systemen auseinanderzusetzen. Dabei spielt die politische Bildung durch Schule und Eltern eine große Rolle. Das bestätigt die Shell Studie: „Bezüglich der Bildungsposition der Jugendlichen liegt ein deutliches Gefälle vor. Jeder zweite Jugendliche, der das Abitur anstrebt oder erreicht hat, bezeichnet sich als politisch interessiert. Bei Jugendlichen mit angestrebtem oder erreichtem Hauptschulabschluss trifft dies hingegen nur auf jeden vierten zu.“[7]

Information, das höchste Gut der Demokratie

Auch leitet sich aus Unwissenheit ein weiteres Problem ab: Man wird anfällig für simple Antworten auf komplexe Fragen. Jene Antworten, die populistische Politik durch einfache Feindbilder liefert.

Mit Aussagen wie: „Wir können die [Migrant*innen] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst“[8] des Ex-AfD-Pressesprechers Lüth[HG2] . Oder „immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“[9] von Marcel Grauf, Referent von Dr [HG3] Christine Baum (AfD) und Heiner Merz (AfD), disqualifiziert sich die AfD in einem konstruktiven demokratischen Diskurs.

Immer wieder legten Journalist*innen und der Verfassungsschutz klarer Beweise für ein menschenverachtendes Weltbild und eine antidemokratische Haltung innerhalb der Partei vor. Dennoch versteht sich die AfD darin, sich selbst darzustellen. Als Gegner des angeblichen Establishments hoch stilisiert, hetzten sie verallgemeinernd gegen Flüchtende, „die Mainstream Medien“ und die von ihnen als „Altparteien“ diffamierten politischen Gegner. Informiert man sich also nicht über verschiedene Quellen und tut Kritik an der eigenen Meinung (kategorisch) als Falschnachrichten der Angeblichen „Lügenpresse“[10] ab, fallen Ungereimtheiten im eigenen Weltbild nicht auf und es fällt schwer einen weltoffenen Blick zu bewahren.

Während ich diese letzten Sätze schreibe, sehe ich der Sonne dabei zu, wie sie langsam hinterm Horizont verschwindet. Ich denke an all das, was ich an diesem Tag, in den letzten Stunden gelesen und gehört habe. Es macht keinen Spaß. Es gibt so viele Probleme und niemand kann sie alle alleine angehen. Mir wird klar, dass es keinen Sinn macht, sich alles, was auf der Welt passiert, auf die eigenen Schultern zu laden. Ich kann inzwischen nachvollziehen, warum das viele Leute abschreckt. Wie so häufig, bestimmt also das Maß. Politisch informiert sein, in Wirtshäusern, bei Familienfeiern oder im Internet seine Stimme erheben, für Gerechtigkeit einstehen und niemals müde werden, jenen Paroli zu bieten, die die Gesellschaft spalten und Hass verbreiten, ja. Aber gleichzeitig, darf man nie vergessen sich vor Augen zu führen, was wir alles erreicht haben, wie gut es uns geht, und dass es nicht wichtig ist, immer über alles bis ins kleinste Detail Bescheid zu wissen.

Ich lege mein Handy weg, diesmal für etwas länger, die Welt und ihre Probleme laufen mir nicht weg.

Zweitveröffentlichung, Nils Hipp, politikorange.de


[2] https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html

[3] https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html

[4]  https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/308350/racial-profiling-institutioneller-rassismus-und-interventionsmoeglichkeiten  / https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/racial-profiling-polizei-verbot-100.html

[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article216656210/Bericht-Gut-350-Verdachtsfaelle-auf-Rechtsextremismus-in-Behoerden.html

[6] Enola Holmes Netflix Film

[7] Shell Studie Seite 2 „Politik und Gesellschaft“ https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570708341213/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf

[8] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/christian-lueth-afd-alexander-gauland-menschenfeindlichkeit-migration/komplettansicht

[9] https://www.kontextwochenzeitung.de/medien/450/wir-schweigen-nicht-6320.html

[10] https://www.bpb.de/lernen/projekte/270428/verschwoerungstheorie-luegenpresse und

https://politikorange.de/2020/05/die-neue-rechte-und-die-luegenpresse/  🙂


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